Heft 22, 4/2005

Den natürlichen Atemrhythmus finden

Hinweise zur Atmung in Qigong und Taijiquan
Von Foen Tjoeng Lie

Die Atmung gilt als eine der drei Säulen des Qigong und auch im Taijiquan kommt immer wieder die Frage auf, wie denn nun »richtig« geatmet werden soll. Foen Tjoeng Lie rät dazu, die für eine jeweilige Übung geltenden Regeln zwar genau zu beachten, dabei aber nichts zu erzwingen, sondern immer dem eigenen Übungsstand entsprechend vorzugehen. Wenn die Atmung entspannt und natürlich bleibt, kann sie sich allmählich dem Bewegungsrhythmus anpassen. Bei speziellen Atemtechniken empfiehlt er, diese zunächst unabhängig vom sonstigen Übungsablauf zu erlernen und erst anschließend mit dem ebenfalls einzeln eingeübten Ablauf zu kombinieren.

Die Atmung spielt bei den chinesischen Übungssystemen wie Qigong und Taijiquan eine wesentliche Rolle. Oft entscheidet sie mit, ob das Üben beziehungsweise die Praxis gelingt und ob die erwünschten Wirkungen erzielt werden. Sie dient außerdem der Harmonisierung bei den Übenden und der Intensivierung der Übungspraxis selbst. Daher ist es für die Lernenden und Praktizierenden ratsam, die Empfehlungen bei der Praxis der Atmung und die unterschiedlichen Atemtechniken aufmerksam zu befolgen und sorgfältig zu erlernen.
Beim Umgang mit der Atmung sollen einige allgemeine Kriterien beachtet werden. Die Atmung soll möglichst natürlich und bewusst, ohne Zwang ausgeführt werden. Denn sowohl im Qigong als auch im Taijiquan gilt es, nichts mit Gewalt erzwingen zu wollen. Auch hier steht der rücksichtsvolle Umgang mit der Atemtechnik und mit dem eigenen Entwicklungsstand beziehungsweise der eigenen momentanen Fähigkeit und Belastbarkeit im Vordergrund.
Im Taijiquan benutzt man in der Regel folgende drei Atemtechniken:
- die natürliche Atmung oder Brustkorb-
Atmung,
- die Zwerchfell- oder Bauch-Atmung und
- die umgekehrte oder paradoxe Zwerchfell- Atmung.
Im Qigong werden weitere Atemtechniken fallweise angewandt, unter anderem:
- Intervallatmung oder Schildkrötenatmung (Guixifa),
- Embryonale Atmung (Taixifa) und
- die so genannte »Windatmung«.

Nichts erzwingen
Unabhängig von der jeweils eingesetzten Atemtechnik wird für den Atemrhythmus bei Qigong und Taijiquan Folgendes empfohlen:
Man sollte ausatmen, wenn man die Beine beugt oder den Körper nach unten bewegt, das Gewicht vorwärts oder rückwärts verlagert beziehungsweise einen Fuß mit Körpergewicht belastet, die Arme vom Körper wegstreckt, die Arme sinken lässt.
Man sollte einatmen, wenn man aufsteht, einen Schritt vorwärts, rückwärts oder seitwärts macht, die Arme zum Körper zurück- oder nach oben führt, die Arme vor dem Brustkorb kreuzt.
Natürlich sind diese Empfehlungen für den Atemrhythmus in Qigong und Taijiquan nicht obligatorisch. Solange das Üben und die gesamte Vorgehensweise sowie die Atmung selbst nicht beeinträchtigt werden, ist auch ein anderer Atemrhythmus möglich. Denn wichtig ist, dass man dabei frei und ungehindert atmen kann. Es gibt in der Tat vereinzelt andere praktizierte Atmungsweisen im Qigong und im Taijiquan, zum Beispiel dass die Atemluft bewusst nach der Einatmung kurz angehalten wird, um die Kraft stärker mobilisieren zu können.
Die Empfehlungen oder situationsabhängigen Atemregeln ergeben sich aus den Bedürfnissen und Notwendigkeiten, die bei der Ausführung der Bewegungen entstehen. Diese Art und Weise, wie Aus- und Einatmung gezielt eingesetzt werden, ist in der Regel von Vorteil für die Gestaltung der Bewegung. Man erreicht zum Beispiel durch das Ausatmen einen stabileren Stand, weil man das Körpergewicht besser verlagern und den Schwerpunkt des Körpers tiefer bringen kann. Beim Einatmen dagegen kann der Körper unter anderem leichter und beweglicher werden, so dass man den Fuß besser von einer Stelle auf eine andere setzen kann.
Im Chen-Stil und im alten Yang-Stil des Taijiquan wird eine besondere Atemführung eingesetzt, um die Jin-Kraft von innen nach außen zu leiten beziehungsweise in einer Fajin-Bewegung abzufeuern. Mit der Einatmung mobilisiert und sammelt man die innere Jin-Kraft, mit der Ausatmung und zusammen mit der Bewegung wird die Jin-Kraft von innen nach außen explodierend eingesetzt.
Grundsätzlich gilt, dass man auf natürliche Weise ausatmet, wenn der Brustkorb durch bestimmte Armbewegungen geschlossen wird. Desgleichen atmet man auf natürliche Weise ein, wenn der Brustkorb durch bestimmte Armbewegungen entfaltet wird. Der Atemrhythmus wird aber nicht erzwungen; er ist ein natürliches Ergebnis der Bewegung, der Körper agiert und reagiert bei der Ausführung von sich aus, das heißt intuitiv.
Dieser Atemrhythmus, der sich aus dem natürlichen Verhalten des Körpers ergibt, wird bewusst benutzt, um die Bewegungen in Qigong und Taijiquan optimal ausführen zu können. Jedoch sollte man beachten, dass jeder Mensch eine individuelle Atemdauer hat, die nicht mit der Dauer der jeweiligen Bewegungen übereinstimmen muss. Außerdem findet auch der Wechsel zwischen Be- und Entlastung der Beine durch das Körpergewicht, zwischen dem Ausstrecken und dem Zurücknehmen und zwischen dem Hinaufführen und dem He-rabsenken der Arme nicht immer zwangsläufig parallel zum Atemrhythmus statt. Deshalb ist es notwendig, dass die Bewegung die Atmung nicht bestimmt, sondern dass sich diese vielmehr ungezwungen aus den Bewegungen heraus ergibt. Die Übereinstimmung zwischen den Atemzügen und den Bewegungen sollte nicht stur und mechanistisch erzwungen werden. Der Atemrhythmus selbst sollte sich den natürlichen Bedürfnissen des Körpers anpassen können. Außerdem kann man sich ruhig eine Zwischenatmung bei Bedarf erlauben, wenn etwa eine Bewegung mehr Zeit als ein natürlicher Atemzug braucht. Diese zwanglose Weise der Atemführung wird von den Chinesen Shun – reibungslos, ungehindert, im richtigen Kurs/Fluss, geordnet – genannt. So wird die Atmung frei und natürlich bleiben.
Im Qigong setzt man außerdem die Atmung, manches Mal mit besonderer Atemtechnik, gezielt ein, um bestimmte erwünschte Wirkungen zu erreichen. Hierbei gelten ebenfalls die genannten Empfehlung zum Umgang mit der Atmung. So wird sie genutzt, um das Qi zum Dantian zu sammeln, zu konzentrieren oder zu kultivieren wie bei der inneren Alchimie (Neidangong). Dabei wird zum Beispiel am Anfang eine heftige Atmung eingesetzt, um das Qi im Dantian zu vermehren und anschließend wird sanft geatmet, um das Qi im Dan-tian zu veredeln (wie beim Köcheln).
Auch setzt man die Atmung gezielt ein, um Qi willentlich zu einem bestimmten Körperteil oder Organ zu lenken beziehungsweise auf einer vorgeschriebenen Laufbahn zu bewegen wie beim »Kleinen Qi-Kreislauf«, Xiaozhoutian, oder beim »Großen Qi-Kreislauf«, Dazhoutian. Unter anderem führt man das gesammelte und konzentrierte Qi mit der Einatmung innerhalb der Laufbahnen hinauf und mit der Ausatmung herunter.
Bei wenigen Qigong-Übungen werden bestimmte Silben oder Laute gesungen wie bei den »Sechs heilenden Lauten«, Liuzhijue. Neben der unterschiedlichen Formung der Mundhöhle, der Lippen und der Lagerung der Zunge versucht man die Atemluft beim Singen (Ausatmung) so zu dosieren, dass der Laut nicht nur deutlich gebildet wird, sondern auch recht lang anhaltend gesungen werden kann. So wird die Wirkung auf den jeweiligen Funktionskreis einschließlich der dazugehörigen Emotion verstärkt.

Der Atemrhythmus entsteht aus der Bewegung
Im Qigong und im Taijiquan benötigt man ein Höchstmaß an Konzentration und innerer Ruhe, um die verschiedenen Übungskriterien zu erfüllen wie:
- gleichmäßige, fließende, runde und sinnge- mäße Bewegungen,
- Koordination zwischen den Armen und Beinen sowie zwischen Rumpf und den Gliedern,
- bewusste Führung der Bewegung mit Ein- satz des Blickes,
- Harmonie zwischen Körper und Geist
- und andere mehr.
Mit der Atmung kommt hinzu:
- die Atmung bewusst und synchron mit den
Bewegungen zu gestalten.
Beides, Konzentration und innere Ruhe, kann man nur erreichen, wenn man bereits ein gewisses Maß an Routine erworben hat und die Bewegungen sicher, korrekt, gewandt und ohne Anstrengungen ausführen kann. Erst dann wird es möglich Zeit und Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, die Atmung den Bewegungen und dem Übungsziel gerecht zu steuern. Bevor man jedoch dieses Stadium erreicht hat, das heißt insbesondere in der ersten Lern- und Übungsphase, empfiehlt es sich daher, sich die angewandte Atemtechnik und die Bewegungen beziehungsweise das komplexe Übungsverfahren zuerst getrennt voneinander anzueignen.
Die jeweilige Atemtechnik kann man zuerst ohne Qigong-Übungen oder Taiji-Bewegungen im Liegen, Sitzen oder Stehen lernen und schulen. Auf diese natürliche Weise ist sie recht leicht zu erlernen und man gewinnt rasch eine gewisse Vertrautheit mit den jeweiligen Atemtechniken. So wird die Atmung unabhängig von der angewandten Atemtechnik dann auch allmählich frei, ruhig, gleichmäßig, fein (das heißt geräuschlos) und tief.
Die Bewegungen oder das komplexe Übungsverfahren können zunächst ohne die spezifische Atemtechnik, also bei freier Atmung erlernt und trainiert werden. Auf diese Weise gewinnt man das Maß an Zeit und Aufmerksamkeit, das nötig ist, um sich die korrekte Vorgehensweise und Bewegung bei entspannter Körperhaltung, einem stabilen Stand und so weiter unabhängig von der Konzentration auf den Atemrhythmus anzueignen und zu üben. Wenn man dabei den Atem nicht anhält, wird der Körper in der Lage sein, intuitiv den richtigen Atemrhythmus zu finden. Diese Erfahrung werden alle Qigong- und Taiji-Übenden, die die genannten Empfehlungen für sich annehmen, früher oder später machen können.
Anschließend kann man dann die erlernte Atemtechnik gezielt in die Übungen einbauen, mit einzelnen Bewegungen oder Schritten kombinieren. Man sollte sich dabei die nötige Zeit nehmen und geduldig üben im Sinne von versuchen. Nur durch dieses schrittweise, wiederholte und beständige Üben ist das Erlernen und das Praktizieren einer oft komplexen Atemtechnik in Qigong und Taijiquan möglich und Erfolg versprechend.
Wenn man die Atemtechnik dagegen zu früh, also bevor man die nötige Routine beziehungsweise Fertigkeit erworben hat, zusammen mit komplexen Bewegungen einsetzt, wird man sich unnötigerweise überfordern. Man kann die negativen Wirkungen einer solchen Überforderung in Form von Herzklopfen, Kurzatmigkeit, innerer Unruhe, Verspannungen, Konzentrations- und Gleichgewichtsstörungen sowie Störungen in der Bewegung beziehungsweise im Übungsverfahren selbst zu spüren bekommen.
Die Folge wären ein uneffektives Lernen und Frustration; Qigong und Taijiquan würden schließlich keinen Spaß mehr machen. Die Versuchung, das Üben abzubrechen oder sogar ganz aufzugeben, wäre dann sehr groß. Daher nochmals die Empfehlung: Man sollte den Atemrhythmus bewusst und zu den Bewegungen passend erst einsetzen, wenn man eine gewisse Fertigkeit in den Übungen einschließlich der Körperhaltung und des Gleichgewichts gewonnen hat.

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