Heft 12, 2/2003
Vom zappelnden Knallfrosch zum seligen Walross
Erfahrungen mit Kinder-Taiji an einer Grundschule.
Von Daniel Grolle-Moscovici
Taijiquan im Rahmen von Pflichtunterricht an einer Schule ist etwas ganz anderes als in Gruppen, zu denen Kinder oder Erwachsene aus eigenem Interesse kommen. Diese Erfahrung machte Daniel Grolle-Moscovici im Schuljahr 2001/2002 an einer Grundschule, die sich Taijiquan zur Gewaltprävention wünschte. Nach anfänglichen massiven Schwierigkeiten entwickelte er allmählich eine funktionsfähige Unterrichtsstruktur, die um ein zum Kreis gebundenes Seil aufgebaut ist, sowie diverse »coole« Übungen, die die Aufmerksamkeit der Kinder fesselten. »Ganz nebenbei« konnten die Kinder ihre Körperkoordination verbessern und einen sensiblen körperlichen Umgang miteinander kennen lernen.
Im Sommer 2001 erhielt ich einen merkwürdigen Anruf. Die Rektorin einer Grundschule fragte, ob ich mit Drittklässlern einmal wöchentlich als Taiji-Lehrer arbeiten wolle. Da die Gewalt an Schulen zunehmend zu einem Problem geworden ist, wird das Thema viel diskutiert und die einzelnen Schulen initiieren Gewaltpräventions-Programme. In diesen Programmen lernen Kinder über Gewalt zu reden, über die Herkunft von Gewalt nachzudenken, Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln und einzuüben. Bei näherer Betrachtung dieser Gewaltpräventions-Programme wünschten sich die Rektorin und eine Gruppe engagierter Kollegen und Eltern für ihre Grundschüler lieber eine körperliche Schulung zum Umgang mit diesem körperlichen Problem. Ohne genauere Kenntnisse vom Taijiquan zu haben, hatten sie doch die Hoffnung, damit etwas für ihre Kinder gewinnen zu können. Sie luden mehrere Taiji-Lehrer zu Vorstellungsgesprä-chen ein und hatten schließlich bei mir das Gefühl den Richtigen gefunden zu haben.
Ich wiederum kann auf keine besonders glückliche eigene Schulzeit zurückblicken und habe die Schule mit dem Abitur und der Gewissheit verlassen, sie nie wieder zu betreten. Und jetzt sollte ich plötzlich vier dritten Klassen Kinder-Taiji beibringen. Entspannung, Selbstwahrnehmung, Balance, Friedfertigkeit zwangsweise.
Das ganze Projekt wurde von der Behörde nur toleriert, nicht aber gefördert. So konnte für jede Klasse eine Verfügungsstunde pro Woche als Taiji-Stunde genutzt werden. Das Honorar wurde aus Spenden finanziert. Meine Vorerfahrungen für diese Herausforderung waren zwei eigene Kinder, ein bisschen Unterricht mit Kleingruppen im Alter zwischen drei und zwölf Jahren und ein vertrauter Umgang mit meinem eigenen inneren Kind.
Vor dem ersten Auftritt in der Schule kaufte ich mir einen weißen seidenen Taiji-Meister-Anzug. Allerdings wollte ich ihn etwas Schmutz-trotzender machen und färbte ihn blau. Aus der Waschmaschine kam ein lustig blau-weiß gebatikter Kasper-Kittel. Mancher taugt eben nicht zum Meister.
So ausstaffiert und voller Ideen trat ich also meine erste Kinder-Taiji-Stunde an. Die Kinder rannten und tobten in die schöne, offene Pausenhalle, sprangen und schrien. Für die erste tolle Spielübung sollten sie sich im Kreis aufstellen. Ich ahnte allerdings nicht, dass eine Klasse, in der Ritalin für viele Kinder zur täglichen Diät gehört und in der manche Lehrer verzweifeln, beim besten Willen nicht im Kreis stehen kann. Wie soll Atta still neben Jonas stehen, wenn der ihm doch den Handschuh gestohlen hat und ihn gerade zu Uwe weiterwirft ...
Nach drei Monaten war ich drauf und dran das Projekt wieder aufzugeben. Noch nie war Taiji-Unterricht für mich so kräftezehrend gewesen. Ich fühlte mich gezwungen Dinge zu tun, die ich nie freiwillig getan hätte. Zudem war ich nicht in der Lage den Kindern das zu geben, was sie offensichtlich brauchten.
Voraussetzungen zum Lernen schaffen
Bisher hatte ich im Taijiquan Schülern den Weg zu persönlicher Freiheit im Fühlen und Handeln gezeigt. Hier aber wurde schnell klar, dass die Kinder alle Freiheiten, die ich ihnen bot, sofort gegen sich selbst einsetzten. Ich hatte also die unschöne Aufgabe, den Kindern die unverträgliche Freiheit zu nehmen.
Dazu war es zu-nächst einmal wichtig, dass jedes einzelne Kind während des Un-terrichts einen direkten Bezug zu mir hatte, um so aus den Käm-pfen mit den Nachbarn herausgehalten zu werden. Dieser Versuch fruchtete erst ab dem Moment, in dem ich ein langes, zu einem Ring geknotetes Seil ins Spiel brachte. Das Seil hatte 15 mit Zahlen durchnummerierte Knoten. An jedem dieser Knoten standen zwei Kinder, die jeweils ein Team waren und das auch über den Rest der Zeit blieben. Die Teams und deren Posi-
tion am Seil haben die Klassenlehrerinnen sensibel ausgetüftelt. Die Kunst war, die explosiven Jungen voneinander zu isolieren ohne dadurch andere Kinder als Puffer zu verschleißen.
Ab diesem Zeitpunkt konnte ich auch beginnen eine wiederkehrende Übungsroutine für die Kinder zu entwickeln. Die Kinder kamen in die Halle und fanden das Seil schon auf dem Boden im Kreis ausgelegt. Jedes Kind suchte seine Position außen am Seilkreis und tippte mit beiden Zeigefingern im Kreis auf den Boden. Dann zogen alle Kinder langsam ihre Finger zu sich heran, so dass schließlich jedes Kind mit beiden Zeigefingern am Seil war. Auf diese Weise begann sich das Seil zu straffen und wir konnten es behutsam anheben. Es schien an den Fingern in der Luft zu schweben und stand dann erstaunlich stabil, obwohl es ja nur von 60 Fingerspitzen nach außen gezogen wurde.
Diese sensible Bewegung der Gruppe verlangte natürlich von allen ein ähnliches Maß an Spannung und Ruhe. Das Ergebnis war cool und das Feedback über das »Tragen« der eigenen Verantwortung in meinem »Umkreis« unmittelbar. Ein wichtiger Nebeneffekt dieser Seilübung war natürlich auch, das derjenige, der beide Hände am Seil hat, sie nicht beim Nachbarn auf der Nase haben kann.
Es ist eine lange Reihe von Übungen entstanden, in der immer beide Hände am Seil blieben. Nachdem wir das Seil gehoben hatten, begann ich zu sprechen: »Ei-nen wun-der-schö-nen gu-ten Mor-gen.« Im Rhythmus zu meinem Sprechen schwang das Seil abwechselnd nach rechts und links im Kreis hin und her. Dann folgte: »Das Seil schau-kelt ganz doll und bleibt ganz plötz-lich stehn.« Und tatsächlich stand das Seil, das eben noch mit allen Armen aller Kinder kräftig schwang, mit einem Schlag wie von Zauberhand. Schwieriger war die Übung, die Pendelbewegung des Seiles gemeinsam kleiner und kleiner werden zu lassen. Danach gingen wir, immer noch mit beiden Händen am Seil, langsam in die Hocke. Dabei summte ich einen sinkenden und zwischendrin wieder ansteigenden Ton und gab damit die Geschwindigkeit des Sinkens und des dazwischen eingeschobenen Steigens vor.
Verwandlungsspiele, die körperliche Fähigkeiten herausfordern
Unten angekommen, verwandelten wir uns in Chinesen, die in der Hocke sitzen, in Afrikaner, die mit gestreckten Beinen sitzen, in Afghanen, die auf den untergeschlagenen Füßen sitzen, in Japaner, Indianersquaws, Amerikaner, Frösche, Enten, Krebse ... Jedes dieser Wesen konnte mindestens einen Trick, der im Kern auf einer Becken-Rücken-Koordination beruhte. So konnten wir als sitzende Afrikaner mit ausgestreckten Beinen auf unseren beweglichen Hintern kleine Schritte machen, gemütliche Chinesen konnten aus der »Schaukelstuhlhocke« nach hinten abrollen und so in eine bereitstehende »Hängematte« rollen, um beim Zurückrollen wieder in ihrem »Schaukelstuhl« zu landen. Inder können sich im Lotussitz auf ihre Arme stemmen und so auf einem »fliegenden Teppich« schweben ...
Zu meinem großen Glück habe ich in früheren Jahren ein verwegenes Leben geführt, in dem auf mich geschossen wurde, mich ein Jaguar und mehrfach Schlangen anfielen, ein Mordversuch, Indianer im Dschungel und Hunger in der Wüste, Verzweiflung und Heldentum. Reichte die Konzentrationsfähigkeit der Kinder nicht mehr für die schwierigen Übungen aus, gab es »wahre Geschichten« allerdings erst, wenn alle still im Kreis saßen. Die Geschichten wiederum waren immer der Einstieg in die nächste Übung, so wie bei dem Mönch, der sich eine dünne Giftschlange zur Nase herein und zum Mund wieder herauskriechen lassen konnte. Den Weg der Giftschlange lernten wir über die Kontrolle der Gaumenklappe kennen, die wiederum der Schlüssel zum eigenen Erzeugen von Obertönen war ... Es tat sich eine immer weitere Welt von Abenteuern, Tricks und Überraschungen auf.
Schließlich konnte ich den Ehrgeiz der Kinder wecken, gefährliche, witzige oder coole Sachen so gut zu erlernen, dass sie ihre Eltern damit erschrecken konnten. Und sie konnten sogar die eigenen Eltern in den neuen Fertigkeiten schulen. Ich ließ mir regelmäßig berichten, wie die Eltern reagiert hätten, ob sie die Tricks durchschauten oder schwer von Begriff gewesen seien. Über das Interesse der Eltern und Freunde an unseren überraschenden Taiji-Spielen kam eine andere Wertschätzung gegenüber den Übungen auf.
Einige davon hatten einen direkten praktischen Nutzen, wie das Trinken von lauwarmem Salzwasser durch die Nase um verschnupfte Stirnhöhlen zu befreien. Andere, wie das Verschlucken von Zunge oder Daumen, das Brechen der eigenen Nase oder das Sich-selbst-in-den-Hintern-Treten waren reine Spaßübungen, die allerdings alle eine feine körperliche Koordination voraussetzten.
Fingerspiele fürs Gehirn
Es war aber auch noch ein großer Satz an »Schlaumacher-Übungen« in den Unterricht eingestreut. Die Wissenschaft geht heute davon aus, das die Entwicklung des Menschen mit der Hand begann und die Komplexität des Hirns eine notwendige Folge daraus war. So stellt man bei sprachgestörten Kindern fest, dass ihre Sprachentwicklung wirksamer durch Fingerübungen als durch direkte Sprachübungen gefördert werden kann. Also übten wir »Schlauwerden« durch Fingerübungen wie das »Inzi Winzi Spider Fingertreppchen«, das wir erst mit Daumen und Zeigefinger, dann mit Daumen und allen Fingern rauf und runter übten, dann mit geschlossenen Augen, mit Partner: meine rechte Hand mit deiner linken, dann mit Partner und beiden Händen und schließlich auch das noch mit geschlossenen Augen. Ein erfahrener Taiji-Spieler wird sofort verstehen, inwiefern das eine wunderbare Taiji-Kampfkunstübung ist.
Schließlich entstand auch der Ehrgeiz, eine Übung besser als alle anderen zu beherrschen und sie vor dem Rest der Klasse vorführen zu dürfen. In der ständigen Rivalität zwischen Mädchen und Jungen gewannen mit wenigen Ausnahmen die Mädchen. Diese Tatsache konnte den Jungen allerdings in keiner Weise die Gewissheit nehmen, dass nur Jungs richtig wie ein Frosch in die Luft springen oder im Yogisitz auf den Knien durch den Raum watscheln können.
Schokoküsse statt Strafarbeiten
Eine wichtige Rolle spielten zu Beginn auch Belohnungen wie etwa ein Abschuss von meinem schweren Schokokuss-Katapult. Die Kinder, die ja in der Schule gewohnt waren, in einer Welt von Noten und Sanktionen ihren Weg zu gehen, kamen bei mir zunächst zu einem Sheriff ohne Colt. Schließlich gelang es aber zunehmend besser, auch die Troubleshooter ins Boot zu bekommen. Denn auch ein Querkopf möchte an seinem Geburtstag unbedingt einen abgeschossenen Schokokuss mit dem Mund fangen dürfen. Spätestens dabei kann er erleben, wie ärgerlich es ist, wenn die Zeit für seinen Schokokussschuss verstreicht, weil einer seiner Kasper-Kumpel absolut nicht bereit ist, mit seinem lauten Furzen aufzuhören oder beleidigt unter einer Vitrine liegt und nicht die Socke eines Mädchens aus dem Mund nehmen will.
Zu Beginn spielte die Anwesenheit der Lehrerinnen eine wichtige Rolle und ebenso die Frage, zu welcher Tageszeit ich unterrichtete. Die Klassen hatten ein krass unterschiedliches Niveau. So konnten in der aufmerksamsten der vier Klassen die lernschwächsten Kinder Fingerübungen erlernen, die in der unruhigsten Klasse selbst die lernstärksten Kinder nicht begriffen. Diese Unterschiede glichen sich aber nach etwa einem halben Jahr weitgehend aus. Jetzt konnte ich in allen Klassen drei Viertel der Zeit Variationen von vertrauten Übungen machen und ein Viertel mit neuen Inhalten füllen. Die Übungen und die in ihnen erworbenen Fähigkeiten griffen so ineinander, das immer schwierigere Übungen immer leichter erlernt werden konnten. Besonders schön für mich waren Meditationsübungen, in denen die Kinder etwa mit geschlossenen Augen die Farben von selbst gesungenen Obertönen schauten und sie auch anschließend beschreiben konnten.
Bewusste Berührungen
Als ich anfing mit den Kindern zu üben, gab es in der Gruppe kaum Berührungen zwischen zwei Kindern, die nicht einen direkten Zweck hatten. Die Kinder berührten sich gegenseitig nur wie Werkzeuge, die man anfasst, um etwas mit ihnen zu machen. Mit der Zeit aber lernten sie, sich gegenseitig zu berühren und dabei den anderen zu spüren. Die Kinder konnten wahrnehmen, ob die Berührung dem anderen angenehm war oder unangenehm, wann ein Druck zu hoch war, so dass der andere umzufallen drohte, und wo er den Druck auf entspannte Weise in den Boden leiten konnte. So haben wir mit einfachen Kampfkunstübungen und der Basis von Push Hands gespielt. Dadurch haben die Kinder einen sensiblen körperlichen Umgang miteinander geübt, der möglicherweise die Vorfälle gewaltsamen Umgangs miteinander reduzieren wird.
In den letzten Wochen haben wir sogar begonnen den Anfang der Taiji-Form zu erlernen. Auch die Form sind wir aus unserer Kreisstellung heraus gelaufen und hatten den Mittelpunkt des Kreises als Norden. So bildeten die Kinder schließlich eine lebendig wogende Taiji-Blüte.
Zum Abschied malten mir die Kinder Bilder und schrieben Sprüche dazu:
»Taiji ist schön!«
»Herrn Grolle sie waren sehr nett.«
»Schade, dass wir jetzt kein Taiji mehr haben.«
Dieses ungewöhnliche Projekt ist schließlich der unkonventionellen und mutigen Rektorin der Grundschule zu verdanken. Gelungen ist das Ganze aber nur dadurch, dass ich eigentlich nicht gelehrt habe, sondern gelernt. Die Kinder haben mich gelehrt, wie sie lernen konnten.
Autor:
Daniel Grolle-Moscovici
begann vor über 20 Jahren bei seiner Großtante Christel Proksch Taijiquan zu erlernen. Angeregt von der Stichting Taijiquan Nederland initiierte er 1989 das Taiji Netzwerk. Er unterrichtet Taijiquan, Tui-shou, Meditation und KinderTaiji in Hamburg und Kiel und gibt Workshops im In- und Ausland.
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